Ö1: „Mein privates Glück“ – Michael Köhlmeier erzählt die Lebensgeschichte seiner Eltern
Die Sendungen im Detail sind abrufbar unter oe1.ORF.at/koehlmeier.
Die Erzählreihe in den „Radiogeschichten“ (11.05 Uhr) beginnt am 6. Mai mit der Begegnung seiner Eltern und der Geschichte seiner Tante Marianne. Im zweiten Teil am 13. Mai steht die Jugend seines Vaters Alois „Wise“ Köhlmeier im Mittelpunkt. Der dritte Teil am 20. Mai widmet sich der Zeit, die Köhlmeier bei seiner Großmutter, „der besten Erzählerin“, verbrachte. Abschließend spricht er im vierten Teil am 27. Mai über seine frühe Kindheit in Coburg und die Rückkehr nach Vorarlberg. Über den gewählten Titel seiner Erzählung sagt Köhlmeier: „Das tiefste Glück ist immer die Kindheit. Daraus bezieht man, wenn sie gut gelaufen ist, alles für später. Sie ist wie eine Schale, aus der das weitere Leben entspringt. Und mein tiefstes privates Glück hat seine Wurzeln in diesem Coburg.“
Michael Köhlmeier beginnt seine Erzählung mit seiner Mutter Paula im Kriegsjahr 1943 im protestantischen Coburg. Dort wächst die Katholikin auf und verbringt am liebsten Zeit mit ihrer engen Freundin Marianne, die Michael Köhlmeier später Tante Marianne nennen wird, einer geerdeten, pragmatischen Frau, die sich in Paulas Cousin Karl, einen Poeten, verlieben wird. „Meine Mutter, das muss man wissen“, erzählt Köhlmeier, „denn es ist für später wichtig, meine Mutter war eine leidenschaftliche Geherin. Und sie ist auch gern mit dem Fahrrad gefahren. Die größte Freude war es, wenn sie das Fahrrad die Veste Coburg raufgeschoben hatte und dann ohne zu treten bis zum Marktplatz runterrollen konnte.“
Auf einem dieser Ausflüge lernen Paula und Marianne zwei Soldaten auf Heimaturlaub kennen, einer davon ist Michael Köhlmeiers Vater Alois „Wise“ Köhlmeier, ein Bauernbub aus dem Ort Hard am Bodensee in Vorarlberg. Paula und Wise entwickeln Sympathie füreinander. „Meine Mutter hatte zwei Kriterien für Männer: Er musste Manieren haben und katholisch sein." Sie beginnen, einander Briefe zu schreiben, und verloben sich schriftlich. Nach dem Krieg weiß Paula nicht, ob ihr Verlobter noch lebt, sie möchte eine Pilgerreise nach Rom machen und beschließt, auf dem Weg dorthin in Hard am Bodensee vorbeizuschauen. „Es war Sommer und sie kam dann in Hard an, hat sich das angeschaut: Es gab nur Bauernhäuser, eine Kirche in der Mitte, die Kirche ganz in der Nähe vom See und im Zentrum des Dorfes: ein Brunnen.“ Dort trifft sie Wise wieder, sie heiraten und werden Eltern. „Meine Eltern haben sich, als sie heirateten, würde ich sagen, alles in allem vorher vielleicht zehn Stunden gesehen, drei Frontbesuche meines Vaters und dann haben sie sich an die 100 Briefe geschrieben. Und dann war der Krieg zu Ende und meine Mutter musste damit rechnen, dass er gefallen ist, weil sie nichts mehr gehört hat von ihm“, erzählt Michael Köhlmeier.
„Ich bin in einer absolut erzählsüchtigen Familie aufgewachsen“
Als Michael Köhlmeiers Mutter Paula bei der Geburt ihres dritten Kindes ins Koma fällt, werden er und seine Schwester zu Paulas Mutter nach Coburg gebracht, da ist Michael zweieinhalb Jahre alt. Seine Großmutter, seine Tante Martha, die kinderlos war, und deren Mann Herbert kümmern sich. „Und die Oma ist mir begegnet als ein unglaublich abergläubischer, magischer Mensch. Also ich möchte erzählen, das ist eine der ersten Erinnerungen: Ich habe mit der Oma im selben Haushalt gewohnt, am Rand von Coburg, mit einer Sicht auf diese wunderbare Veste Coburg. Und ich habe nichts lieber gemacht, als mit ihr einzukaufen. Da hat sie sich immer schön angezogen. Eine goldene Brosche. Und dann sind wir runtergegangen. Und dann haben wir schon Wetten gemacht. Und sie hat gesagt: Also, wenn uns bis unten kein rotes Auto begegnet, wird der Tag gut“, erzählt Köhlmeier. Diese Oma ist eine unglaubliche Erzählerin. „Vielleicht war sie das Vorbild für mein ganzes Leben, wie ein Erzähler sein soll.“ Köhlmeier weiter: „Ich bin in einer absolut erzählsüchtigen Familie aufgewachsen, ich war derjenige, der am wenigsten erzählt hat. Ich habe mich mal in dem Klo eingesperrt, damit ich nicht dauernd die Erzählungen hören musste. (...) Und meine Schwester war eine fanatische Leserin, mit fünf konnte sie schon lesen, hat sich jede Woche einen Stapel Bücher aus der Leihbibliothek ausgeliehen und hat mir immer die Bücher erzählen wollen, die sie gelesen hat. Und ich habe mir lange gedacht: Wieso soll ich lesen lernen? Meine Schwester erzählt mir eh alles. Also, ich bin vor den Erzählern geflüchtet.“
Und dann, eines Tages, soll Michael sein Sonntagsgewand anziehen, einen Matrosenanzug, den seine Tante Martha genäht hatte. Die Familie fährt von Coburg nach Vorarlberg. „Dann standen wir in Lindau am Bahnhof, meine Schwester, meine Oma und ich und da kam uns ein Mann entgegen. Der Mann hat meine Schwester hochgehoben, die hat gleich gequietscht, hat ihr Köfferchen fallen lassen und hat ihre Fingerchen hinter seinem Nacken verschränkt und dann hat er meine Großmutter begrüßt.“ Dieser Mann ist sein Vater Alois „Wise“ Köhlmeier, an den er sich nicht mehr erinnern kann. Als er nach Hause kommt, liegt seine Mutter Paula im Bett. Sie wird die anderen fragen: „‚Hat ihm denn niemand gesagt, dass ich die Mutter bin?‘ Alle haben vorausgesetzt, ich weiß, das ist meine Mutter, aber ich wusste es nicht.“