Wenn Kinder nicht bei ihren Familien leben (können): FM4 Field Recordings mit Elisabeth Scharang
„FM4 Field Recordings – Gespräche mitten im Geschehen“ ist eine Sendereihe an Feiertagen von und mit Elisabeth Scharang. Die Radiomacherin und Filmregisseurin trifft dafür Menschen an ihren Arbeitsplätzen und will verstehen, warum Lieferketten reißen und unter welchem Druck Polizist:innen arbeiten. Sie will wissen, warum der Job bei der Müllabfuhr so gut bezahlt ist und wie man Betreuer:in in einer betreuten WG für Kinder- und Jugendliche wird: „Wir wissen kaum etwas über den Maschinenraum, der uns unter der Oberfläche des Alltags auf Hochtouren beliefert, versorgt, informiert, verwaltet, bespaßt und transportiert.“
Es hat bis in die 2000er Jahre gedauert, bis in Österreich alle großen Kinderheime geschlossen wurden. Aus den Schlafsälen für 30 Kinder wurden Wohngemeinschaften für 8 bis 9 Kinder und Jugendliche. Rund 13.000 Kinder leben in Österreich in einer dieser betreuten WGs. Elisabeth Scharang hat die Erlaubnis bekommen, einen Tag lang in einer von 13 betreuten WGs der Volkshilfe in Wien Gast zu sein.
„Die Kinder und Jugendlichen, die hier wohnen, haben alle viel erlebt. Wir wollen nicht das Risiko eingehen, dass sie über eine unsensible mediale Berichterstattung stigmatisiert werden“, sagt Tatjana Bernhard, pädagogische Leiterin. Deshalb sind die WGs im Normalfall für Medien geschlossen.
In den Field Recordings legt Elisabeth Scharang einen Fokus auf die Menschen, die 365 Tage und Nächte im Jahr im Schicht- und Radldienst alles tun, was Eltern im Normalfall auch tun: mit Kindern Schulaufgaben machen, gemeinsam essen, gemeinsam zum Arzt gehen, spielen, das Zimmer aufräumen, darüber diskutieren, wie lange man am Handy hängen darf, die Kinder trösten, wenn sie traurig sind und sie abends ins Bett bringen – nur, dass die Betreuer*innen nicht die Eltern der Kinder sind und die Kinder nicht freiwillig in der WG leben. „Wir sind neben der Familie eine zweite sichere Struktur für die Kinder, aber wir wollen und können niemals in Konkurrenz treten mit dem Herkunftssystem der Kinder, mit ihrer Familie“, sagt Tatjana.
Birgit arbeitet seit fünf Jahren in der WG und ist eine der beiden Pädagoginnen, die an diesem Tag Dienst hat. „Es ist schwierig meinen Job gut zu beschreiben, weil er so viel beinhaltet. Man muss sehr viel bieten und wird gesellschaftlich nicht gesehen. Wenn ich im Freundeskreis erzähle, dass ich Sozialpädagogin bin, kommt oft die Reaktion: Ah, ein bissl auf Kinder aufpassen. Ich begleite hier neun so unterschiedliche Kinder mit teilweise schweren Traumatisierungen, das ist ganz schön herausfordernd und ist mehr als ein bisschen Babysitten. Und man wächst daran, jeden Tag, weil du Kindern nichts vormachen kannst!“
Anna lebt seit 5 Jahren in der Wohngemeinschaft; sie geht in die dritte Klasse Volksschule. Sie hat ein eigenes Zimmer mit einem Hochbett und einem selbstgebastelten Zelt, in das sie sich verkriechen kann, wenn es ihr nicht gut geht. „Am Anfang wollte ich wieder zurück zu meinen Eltern, aber das ging nicht. Da habe ich geweint, fünf Tage lang, und dann habe ich Annette kennengelernt, sie war damals meine Betreuerin und sie war so nett zu mir – sie heißt ja auch An-nett“, Anna grinst.